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Kommentare (Essays)

Warum meistens über Fototechnik geschrieben wird

Im World Wide Web, in Büchern und Zeitschriften finden sich erheblich mehr Texte über die technischen Aspekte der Fotografie als über die Bildgestaltung. Dieser Kommentar sucht nach den wichtigsten Ursachen.

Technik ist angewandte Physik, Bildgestaltung beruht auf menschlichen Gefühlen

In der Fototechnik ist alles genau definiert und reproduzierbar. Das Resultat ist unter gleichen Umständen stets das Gleiche. Ich kann erklären, was geschieht, wenn die doppelte Lichtmenge (Energie) auf den Kamerasensor trifft oder um wie viel größer die doppelte Brennweite einen Gegenstand auf den Sensor projiziert.

Warum ein Bild mich begeistert, lässt sich nicht allgemeingültig in Worte fassen. Es ist auch nicht reproduzierbar. Heute kann mir das Bild gefallen, in einem Jahr unter anderen Umständen nicht. Bilder, die andere begeistern, kann ich nichtssagend finden und umgekehrt.

Schreibe ich über Fototechnik, befinde ich mich auf sicherem Terrain. Es gibt eine "objektive Wahrheit", die mit Hilfe der Physik bestätigt werden kann.

Aussagen über die Bildgestaltung sind subjektiv. Ich kann schreiben, wie ein Bild möglicherweise wahrgenommen wird von den meisten Menschen mit ähnlicher Kultur wie der meinen unter angenommenen Umständen.

Die Fototechnik entwickelt sich schnell weiter, der Mensch nicht

Neue Erfindungen bieten ständig neue Gelegenheiten für Artikel über die Fototechnik. Das kann ein grundlegender Wandel sein vom Film zum CCD-Sensor und von der chemischen Filmverarbeitung zur digitalen Bildbearbeitung. Oder es ändern sich innerhalb einer Technik die Möglichkeiten, beispielsweise die steigende Qualität der Bildsensoren oder verbesserte Bildbearbeitungsprogramme.

Die Fotoindustrie bringt laufend neue Kameras, Objektive und Zubehör auf den Markt, das getestet und beschrieben werden kann.

Im Gegensatz dazu ändern wir uns kaum, die Evolution schreitet langsamer voran als die Technik. Ein Mensch vor 10.000 Jahren hat wohl ebenso empfunden wie wir heute. Es gibt wenig Neues zu berichten.

Die Technik kann bis in die Tiefe beschrieben werden

Über die Fototechnik lässt sich nicht nur viel schreiben, jeder Aspekt kann detailliert bis an die Grenzen unseres Wissens abgehandelt werden, bis hin zu den physikalischen Grundlagen.

Ich kann jeden Punkt der zahlreichen Menüs moderner Digitalkameras beschreiben, so dass der weniger Interessierte die Auswirkungen auf das Bild kennt sowie umfassend bis hin zu den technischen und physikalischen Grundlagen. Über moderne Aufnahmetechniken wie HDRI lässt sich ausgiebig die praktische Durchführung und die Bildbearbeitung am Computer beschreiben, der Aufbau von HDR-Bilddateien und Tone Mapping-Algorithmen.

Bei der Bildgestaltung kann ich nur behaupten, beispielsweise, dass eine von links unten nach oben rechts verlaufende Linie als dynamisch und aufstrebend empfunden wird. Die Begründung ist ebenfalls eine Vermutung: Wir lesen Texte von links nach rechts → Wir schauen Bilder von links nach rechts an → Folgen wir der Linie, fangen wir unten an und blicken sukzessive nach oben → Der kontinuierliche Blick nach oben vermittelt das Gefühl. Die zweite Folgerung in der Begründung trifft kaum zu, die erste ist fraglich. Wie ist das bei Menschen, die nur Schriften lesen, die von rechts nach links geschrieben werden? Vermittelt ein Blick nach oben bei allen das gleiche Gefühl? Es gibt keine wissenschaftliche Beweise für diese Behauptungen.

Die Technik führt zu zuverlässigen Ergebnissen

Die Fototechnik liefert mir garantierte Ergebnisse. Öffne ich die Blende und verlängere die Verschlusszeit oder stelle am Blitzgerät eine höhere Leistung ein, wird das Bild heller. Ich weiß, wie ich vorgehen muss, damit das Bild ein bestimmtes Aussehen hat und kann das dank Digitalkamera noch vor Ort sicherstellen. Was die Technik anbelangt, lässt sich ein perfektes Bild erzeugen, eines das sehr scharf und richtig belichtet ist.

Die unpräzisen Regeln der Bildgestaltung helfen mir nicht, garantiert ein ergreifendes Bild zu fotografieren, selbst wenn es das Motiv hergibt. Für jede Befolgen- und Unterlassungs-Regel existieren entgegen der Vorhersage schlechte und gute Bilder, die zeigen, dass diese Regeln keine Gesetze sind.

Folge für den Fotografen

Die ständig fortschreitende Fototechnik gibt uns die Möglichkeit, das Bild technisch zu perfektionieren. Es ist beruhigend, dass wir diese sicher erlernen und anwenden können.

Was früher nicht möglich war, ist heute meistens kein Problem mehr: Helligkeitsunterschiede von 15 und mehr Blenden lassen sich so fotografieren und auf Bildschirmen sowie Papier derart darstellen, dass auch hellste und dunkelste Bereiche feinste Details zeigen (HDRI). Die Schärfentiefe lässt sich beliebig weit über die optischen Grenzen ausdehnen bei höchster Allgemeinschärfe (Focus Stacking).

Will ich kein technisch perfektes Bild, beispielsweise eines mit Verwischungen und Blendenflecken, kann ich auch das mit angewandter Technik erreichen.

Obwohl die Bildgestaltungsregeln kein gelungenes Bild garantieren, helfen sie, die Absichten des Fotografen zu verwirklichen. Erst wenn ich weiß, wie ich mein Motiv vom Hintergrund isoliere oder es mit diesen in Verbindung bringe, wie ich Strukturen hervorhebe oder verdecke …, kann ich zielgerichtet fotografieren.

Wir benötigen beide Kenntnisse, damit wir gute Bilder zustande bringen: Die der Fototechnik und jene der Bildgestaltung. Dass hauptsächlich über die Technik geschrieben wird, liegt in der Natur der Sache und nicht daran, dass diese wichtiger ist.

Elmar Baumann, 28.12.2015.